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Geschichten
Kontrollierte Rückkehr
Wie die Stasi einen Rückkehrer für ihre Propaganda benutzte
Die allermeisten
DDR-Flüchtlinge wollten ihrer Heimat für immer den Rücken kehren. Einige zog es jedoch wieder zurück. 1985 riefen
SED und
Stasi eine Propagandakampagne ins Leben, die diese Rückkehrer benutzte, um Ausreisewillige abzuschrecken. Die
Stasi-Akten eines Naturwissenschaftlers zeigen, wie die Geheimpolizei die Wiederaufnahme der Heimkehrer in die
DDR kontrollierte und steuerte.
Kontrollierte Rückkehr
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Einleitung
Seit 1981 hatte der Mann, der als Naturwissenschaftler arbeitete und in einer Großstadt der DDR lebte, sieben Ausreiseanträge gestellt, weil er sich laut Stasi-Bericht in der DDR "persönlich eingeengt fühlt und seine berufliche Entwicklung gehemmt sei". Er wollte seinem Bruder, der bereits in den 1950er Jahren geflüchtet war, in die Bundesrepublik folgen. Mehrere Jahre wurde der Mann wegen seines Ausreisewunsches von der Stasi überwacht.
1984 spitzte sich die Situation zu: Im Februar führten MfS-Mitarbeiter mit ihm ein "Verhinderungsgespräch", um ihn umzustimmen. Der Ausreisewillige hielt jedoch an seinen Plänen fest und drohte im März damit, seine Anträge mit "spektakulären Mitteln" durchzusetzen. Aufgrund dieser Drohung und der engen Kontakte zu seinen Verwandten im Westen, die er über seine Anträge auf dem Laufenden hielt, fürchtete die Stasi negative Schlagzeilen für das SED-Regime.
Am 2. April 1984 leitete das MfS eine Operative Personenkontrolle (OPK) mit dem Namen "Abflug II" gegen den Ausreisewilligen ein. Die Übersiedlung in den Westen sollte nun mit allen Mitteln verhindert werden. Drei Tage später wurde er inhaftiert. Der Wunsch nach Reisefreiheit und Übersiedlung endete in einer Strafvollzugseinrichtung.
Aus Gründen des Datenschutzes wurden alle persönlichen Angaben anonymisiert.
Einleitung
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Abschlußbericht zur Operativen Personenkontrolle "Abflug II"
Abschlußbericht zur Operativen Personenkontrolle "Abflug II"
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Die Rückkehrer-Kampagne
Während der Mann noch in Stasi-Haft saß, druckte im März 1985 die Partei-Zeitung "Neues Deutschland" unter der Überschrift "Über 20.000 Ehemalige wollen zurück" Aussagen ehemaliger DDR-Bürger: Angesichts von Arbeitslosigkeit und "sozialer Kälte" im Westen wollten sie gerne zurückkehren. Die teils konstruierten Geschichten und übertrieben hohen Zahlen sollten Ausreisewillige in der DDR von der Übersiedlung in den Westen abschrecken. Die Kampagne war eine Reaktion auf den weit verbreiteten Ausreisewunsch unter den DDR-Bürgern. 1984 hatte die SED in Zusammenhang mit dem Milliardenkredit aus der Bundesrepublik mehr als 30.000 Menschen in den Westen ausreisen lassen.
Wenige Tage nach dem Artikel im „Neuen Deutschland“ informierte Stasi-Minister Erich Mielke in einem Brief verschiedene Abteilungen seines Ministeriums über die Zielsetzung der Propagandamaßnahme und die Aufgaben der Stasi bei der Wiederaufnahme ehemaliger DDR-Bürger.
Die Rückkehrer-Kampagne
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Anweisung zur Überprüfung von Rückkehrern in die DDR
Anweisung zur Überprüfung von Rückkehrern in die DDR
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Ausreise und Rückkehrwunsch
Ende April 1984 war der Naturwissenschaftler zu 18 Monaten Haft verurteilt worden. Nach 13 Monaten Haft wurde er im Mai 1985 in die Bundesrepublik entlassen, vermutlich im Rahmen des Häftlingsfreikaufs. In der DDR zurück blieben jedoch mehrere Verwandte. Im Westen angekommen, wohnte er bei Verwandten und einem ebenfalls aus der DDR übergesiedelten Freund.
Bereits gut zwei Monate nach der Ausreise schrieb der Mann jedoch der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, er wolle zurückkehren. Zumindest den DDR-Behörden gegenüber führte er dafür private Gründe an. Ihm fehlten vor allem seine Angehörigen und er wollte seine Lebensgefährtin heiraten.
Ausreise und Rückkehrwunsch
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Bitte eines ehemaligen DDR-Bürgers um Rückkehr
Bitte eines ehemaligen DDR-Bürgers um Rückkehr
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Überprüfung durch die Stasi
Auch die Lebensgefährtin des Mannes bat das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) sich für dessen Rückkehr einzusetzen. Das Schreiben wurde jedoch an die Stasi weitergeleitet, die eine Wiederaufnahme des Rückkehrwilligen monatelange prüfte. Die zuständige Dienststelle des MfS leitete im September 1985 die OPK "Einflug" ein, die genauere Auskunft über den Mann und seine Rückkehrabsichten liefern sollte.
Die Geheimpolizei wollte unter den Rückkehrern feindliche Spione, politisch Unzuverlässige oder andere aus ihrer Sicht schwer integrierbare Menschen identifizieren. Der Naturwissenschaftler war jedoch als Akademiker und leitender Angestellter für eine Aufnahme prädestiniert, da besonders auf solchen Positionen in der DDR stets Arbeitskräfte fehlten. Außerdem hoffte die Stasi, sie könne die Rückkehr des Mannes propagandistisch nutzen. Auch die Bezirkskoordinierungsgruppe des MfS, die Fluchten und Übersiedlungen in der Region unterbinden sollte, befürwortete daher seine Aufnahme.
Überprüfung durch die Stasi
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Vorschlag zur "Wiederaufnahme in die DDR im begründeten Einzelfall"
Vorschlag zur "Wiederaufnahme in die DDR im begründeten Einzelfall"
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Vorbereitung der Wiederaufnahme
Die Rückkehr in die DDR wurde allerdings vorerst gestoppt. Im November 1985 sprach sich die Bezirksverwaltung gegen die Aufnahme aus, weil der "Umerziehungsprozess" misslingen und der Rückkehrwillige aufgrund seiner "negativen politisch-ideologischen Grundposition" und seiner "Charakterschwächen" zum "öffentlichkeitswirksamen Problemfall" werden könne. Der Naturwissenschaftler und seine Lebensgefährtin ahnten natürlich nicht, dass sich das Blatt gewendet hatte. Zwischen September 1985 und Januar 1986 wiederholten sie in weiteren Briefen an staatliche Stellen der DDR ihren Wunsch nach Rückkehr des Mannes, um eine Familie gründen zu können. Die Frau bekundete immer wieder, wie sehr die Ungewissheit über die Zukunft sie belastete.
Auf Betreiben der Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG) in der Berliner Stasi-Zentrale, die Fluchten und Übersiedlungen verhindern sollte, prüfte die Bezirksverwaltung den Fall erneut. Nach Beratung mit dem Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung der SED stimmte sie der Rückkehr doch noch zu. Bei der Aufnahme wollte die Stasi nichts dem Zufall überlassen: Auf der Grundlage eines detaillierten Operativplans sollten der Rückkehrer und sein Umfeld erneut durch die Stasi überwacht und bespitzelt werden. In der Logik der Stasi galt der Mann als "Verräter", der sich nun erst bewähren sollte, bevor er in die Heimat zurückkehren durfte.
Vorbereitung der Wiederaufnahme
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Operativplan zur Wiederaufnahme eines Rückkehrers in die DDR
Operativplan zur Wiederaufnahme eines Rückkehrers in die DDR
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Prüfungsgespräch vor der Rückkehr
Etwa sechs Monate nach der ersten Bitte um Rückkehr durfte der Naturwissenschaftler ausnahmsweise für drei Tage in die DDR einreisen – zur Beerdigung seiner Mutter. In der Wohnung seiner Verlobten befragte ihn ein Mitarbeiter der Stasi, der sich als Mitarbeiter des Kombinats vorstellte, über sein Leben in der Bundesrepublik, die Motive seiner Rückkehr und seine Pläne für das zukünftige Leben in der DDR.
Dem Rückkehrwilligen war vermutlich bewusst, dass sich bei Wohlverhalten die Aufnahmechancen erhöhten. So bot er an, den staatlichen Kampf gegen die Übersiedlungen in den Westen zu unterstützen: Er war bereit, seine Ausreise öffentlich als Fehler darzustellen und andere Ausreisewillige in Gesprächen von ihren Plänen abzubringen.
Prüfungsgespräch vor der Rückkehr
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Bericht über ein Gespräch mit einem Rückkehrwilligen
Bericht über ein Gespräch mit einem Rückkehrwilligen
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Aufhebung der Einreisesperre
Es war weiterhin die Stasi-Zentrale, die eine Rückkehr des Mannes vorantrieb. Die ZKG ging davon aus, dass der Naturwissenschaftler vom Leben im Westen enttäuscht sei, weil er dort keine Arbeit gefunden habe; ob dies der Wahrheit entsprach, kann anhand der Stasi-Unterlagen nicht eindeutig festgestellt werden. Mit dieser Geschichte jedenfalls sollte der Rückkehrer auf zentraler und lokaler Ebene bei öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten eingesetzt werden.
Nachdem Mielkes Stellvertreter, Generalleutnant Gerhard Neiber, dem Vorschlag zugestimmt hatte, leitete die ZKG die nächsten Schritte ein: Ende Februar sollte das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) dem Heimkehrer mitteilen, dass er sich zur Durchführung des Aufnahmeverfahrens in der Auskunfts- und Aufnahmestelle in Berlin-Pankow melden solle. Hierzu wurde die bisherige Einreisesperre gegen ihn aufgehoben.
Aufhebung der Einreisesperre
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Aufhebung der Einreisesperre gegen einen ehemaligen DDR-Bürger
Aufhebung der Einreisesperre gegen einen ehemaligen DDR-Bürger
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Durchleuchtung in Röntgental
Die ZKG hatte zwar nun die Aufnahme des Mannes vorgeschlagen, genau befragt und "durchleuchtet" wurde er jedoch erst im Zentralen Aufnahmeheim (ZAH) in Röntgental. In diesem Heim am nordöstlichen Stadtrand von Berlin wurden seit 1979 die meisten Übersiedler aus dem Westen überprüft und auf das Leben in der DDR vorbereitet. Der Aufenthalt dauerte oft mehrere Wochen, die Übersiedler durften das Heim nicht verlassen, wurden verhört und bespitzelt.
Am 25. März 1986 traf der Rückkehrwillige im ZAH ein. Nach einem Monat von Befragungen und Überprüfungen verpflichtete ihn die Stasi, sich an Propagandamaßnahmen zu beteiligen. Vermutlich wirkte der ungewisse Ausgang seines Aufnahmeverfahrens als Druckmittel.
Durchleuchtung in Röntgental
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Überwachung von Rückkehrern und Zuziehenden im Zentralen Aufnahmeheim Röntgental
Überwachung von Rückkehrern und Zuziehenden im Zentralen Aufnahmeheim Röntgental
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Bilder des Zentralen Aufnahmeheims Röntgental
Bilder des Zentralen Aufnahmeheims Röntgental
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Fotos der Umzäunung und des Eingangs des Zentralen Aufnahmeheims Röntgental
Fotos der Umzäunung und des Eingangs des Zentralen Aufnahmeheims Röntgental
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Gespräch mit einem ehemaligen DDR-Bürger im ZAH Röntgental
Gespräch mit einem ehemaligen DDR-Bürger im ZAH Röntgental
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Propagandaeinsatz
Drei Tage nach der Verpflichtung befragte ein Stasi-Mitarbeiter den Naturwissenschaftler im ZAH zu seinen Erfahrungen im Westen. Laut Abschlussbericht der Stasi sollte das Gespräch "der Unterstützung vorgesehener zentraler Maßnahmen in der Öffentlichkeitsarbeit durch das MfS" dienen. Die Aufnahme wurde mit anderen Rückkehrer-Interviews unter dem Titel "Zurückgekehrt – Interviews mit Enttäuschten" auf einer Kassette zusammengeschnitten und davon etwa 300 Exemplare zur internen Schulung an Dienststellen der Stasi verteilt.
Propagandaeinsatz
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Ausschnitt der Tondokumentation "Zurückgekehrt – Interviews mit Enttäuschten"
Ausschnitt der Tondokumentation "Zurückgekehrt – Interviews mit Enttäuschten"
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Wiederaufnahme und Überwachung
Am 2. Mai 1986 wurde der Mann aus dem ZAH entlassen. Die Stasi schenkte seinen Ausführungen zu den Motiven seiner Rückkehr Glauben, zudem hatte er sich in dem aufgenommenen Interview so geäußert, wie die Stasi es sich wünschte. Der Rückkehrer durfte daher in der DDR bleiben und kehrte in seine Heimatstadt zurück. Da er seine eigene Wohnung vor der Ausreise in den Westen seiner Tochter überlassen hatte, zog er bei seiner Verlobten ein.
Zur Feier der Rückkehr war auch ein Freund eingeladen, der als IM für das MfS arbeitete und den Naturwissenschaftler bereits vor der Inhaftierung sowie dessen Umfeld vor der Rückkehr bespitzelt hatte. Aufgrund der engen Verbindung der beiden Männer war die Stasi weiterhin gut über den Lebensweg des Zurückgekehrten informiert.
Wiederaufnahme und Überwachung
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Abschlussbericht der HA VII/3 über den Aufenthalt im Zentralen Aufnahmeheim Röntgental
Abschlussbericht der HA VII/3 über den Aufenthalt im Zentralen Aufnahmeheim Röntgental
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Ergebnisbericht zur Durchführung der OPK "Einflug"
Ergebnisbericht zur Durchführung der OPK "Einflug"
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Wirksamkeit der Propaganda
Im Zuge der Rückkehrer-Kampagne von 1985 hatte Stasi-Minister Erich Mielke selbst die Wiederaufnahme einiger Rückkehrer verfügt. Ihre Erzählungen von der Enttäuschung im Westen sollten veröffentlicht werden und so neue Ausreisewillige von ihrem Vorhaben abbringen. Die Rechnung ging jedoch nicht auf; sogar die Stasi selbst notierte, dass Ausreisewillige die Schilderungen der Rückkehrer für staatliche Propaganda hielten und ihre Ausreiseanträge nicht zurücknahmen. Damit hatte die Kampagne ihren Zweck verfehlt.
Die Bezirksverwaltung der Stasi in Dresden plante deshalb, andere Rückkehrer nicht mehr direkt mit Ausreisewilligen zu konfrontieren, weil sich diese nicht umstimmen ließen. Stattdessen sollten sie präventiv "potentielle Übersiedlungsersuchende" überzeugen, in der DDR zu bleiben.
So schilderte auch der zurückgekehrte Naturwissenschaftler seinen Fall vornehmlich bei Terminen mit wichtigen Funktionsträgern des Bezirks. Doch auch westlichen Journalisten wurde gestattet, ihn zu interviewen, und mit ausgewählten Ausreisewilligen wurden Gespräche arrangiert.
Wirksamkeit der Propaganda
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Einbeziehung von Rückkehrern in die Öffentlichkeitsarbeit zur Verhinderung neuer Ausreisewünsche
Einbeziehung von Rückkehrern in die Öffentlichkeitsarbeit zur Verhinderung neuer Ausreisewünsche
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Bericht über den öffentlichen Auftritt eines Rückkehrers vor Funktionären
Bericht über den öffentlichen Auftritt eines Rückkehrers vor Funktionären
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Unzufriedenheit und Ende der Zusammenarbeit
Wie viele Rückkehrer wurde der Naturwissenschaftler auch an seinem neuen Wohnort von der Stasi überwacht. Im August 1988 musste die Stasi registrieren, dass er mit seiner beruflichen Stellung unzufrieden war und viele seiner Wünsche unerhört blieben. Vermutlich wollte der Mann sich deshalb nicht länger propagandistisch von der Stasi ausnutzen lassen und lehnte weitere Auftritte in der Öffentlichkeit ab.
Unzufriedenheit und Ende der Zusammenarbeit
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Auskunftsbericht zu einer in die DDR zurückgekehrten Person
Auskunftsbericht zu einer in die DDR zurückgekehrten Person