Signatur: BArch, MfS, AU, Nr. 11392/70, Bd. 7, Bl. 42
Nach einer gescheiterten Busflucht am Grenzübergang Invalidenstraße und der Festnahme der Beteiligten 1963 legte das MfS Untersuchungsvorgänge an. Darin befinden sich neben geheimpolizeilichen Unterlagen auch Dokumente der Staatsanwaltschaft, die im Zuge der Ermittlungen eng mit der Stasi zusammenarbeitete.
Am 12. Mai 1963 ereignete sich am Grenzübergang Invalidenstraße in Berlin ein spektakulärer Fluchtversuch mit tragischem Ausgang. Gegen 13:00 Uhr durchbrach auf Ost-Berliner Seite ein mit Metallplatten gepanzerter Reisebus der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) in der Scharnhorststraße einen Metallzaun und bog rechts in die Invalidenstraße ein. Nachdem er gegenüber dem Obersten Gericht der DDR an einen Baum geprallt war, kam er kurz zum Stehen. Er setzte seine Fahrt jedoch fort und umrundete die zwei Betonsperren am Grenzübergang. Inzwischen hatten die am Kontrollpunkt stationierten Ost-Berliner Sicherheitsorgane das Feuer eröffnet. Mehrere Kugeln trafen die drei Personen in der Fahrerkabine und verletzten sie schwer. Der Fahrer, Thomas Bischoff (Name geändert), verlor die Kontrolle über den Bus, der daraufhin gegen das letzte Hindernis, die Betonsperrmauer, fuhr. Das Fluchtfahrzeug kam nur einen Meter vor der Grenze zum Stehen.
Die Sicherheitsorgane nahmen die drei Frauen und fünf Männer im Bus fest. Die Schwerletzten, Thomas Bischoff, Norbert Hinrichs und Klaus Ehrhardt (Namen geändert), wurden in das nahegelegene Krankenhaus der Volkspolizei eingeliefert. Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) unterrichtete die Partei- und Staatsführung noch am selben Tag über die Ereignisse.
Wie bei Fluchtversuchen – insbesondere mit Verletzten oder Toten – üblich, leitete das MfS die Ermittlungen, sicherte Beweise und sorgte für die Geheimhaltung. Als "Untersuchungsorgan" übernahm die Linie IX die Federführung. Die im Stasi-Unterlagen-Archiv überlieferten Untersuchungsvorgänge (UV) zu dem Fall umfassen über 20 Bände. Sie geben Aufschluss über den Hergang der Ereignisse, die Ermittlungen und die Folgen für die Betroffenen.
Wie bei UV üblich, finden sich in den Akten auch zahlreiche Dokumente der Staatsanwaltschaft. Diese hatte formal die Aufsicht über die Arbeit des MfS. Aufgrund der doppelten Aktenführung der Geheimpolizei erhielten die juristischen Instanzen jedoch keine umfassende Einsicht in die Ermittlungen. Insbesondere auf nachrichtendienstlich erlangte Informationen hatten sie keinen Zugriff. Vielmehr überwachte stattdessen das MfS die Justiz. Dennoch arbeiteten Staatssicherheit und Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen eng zusammen.
Die UV-Akten zur gescheiterten Busflucht enthalten unter anderem einen Vermerk des zuständigen Staatsanwalts zu einem Gespräch mit den Eltern Klaus Ehrhardts. Daraus geht hervor, dass sämtliche Informationen zu den Ereignissen am 12. Mai streng geheim zu halten waren. Ehrhardts Eltern erhielten keine Auskunft über ihren Sohn und durften nicht über den Vorfall sprechen. Der Staatsanwalt setzte das MfS über das Gespräch in Kenntnis.
Die Urteile gegen die am Fluchtversuch Beteiligten fielen hart aus: Gegen die fünf Frauen und Männer im Passagierraum des Busses verhängte der Strafsenat 1b des Stadtgerichts von Groß-Berlin im November/Dezember 1963 Haftstrafen zwischen drei und siebeneinhalb Jahren. Bischoff, Hinrichs und Ehrhardt wurden als Initiatoren der Fluchtaktion zu Zuchthausstrafen in Höhe von zehn bzw. neun Jahren verurteilt. Ein Helfer aus West-Berlin, der die achtköpfige Gruppe bei ihrer Aktion unterstützte, erhielt sechseinhalb Jahre Haft.
Zum Zwecke des Schutzes von Persönlichkeitsrechten wurden die im Dokument genannten Personen anonymisiert. Um die geschilderten Ereignisse dennoch nachvollziehen zu können, wurden die Namen durch Pseudonyme ersetzt.
[anonymisiert]
0043
Berlin, den 04.06.1963
Ja/Pa.
1) Vermerk
Zur heutigen Sprechstunde erschienen beide Elternteile des Beschuldigten [pseudonymisiert: Ehrhardt].
Die erste Frage war sofort, ob sich der Sohn noch am Leben befindet. Auf meine Fragen, wie sie zu einer solchen Vermutung kommt, stellte sich im weiteren Verlauf der Unterhaltung heraus, dass den Eltern bekannt ist, dass der Beschuldigte [pseudonymisiert: E.] am 12.05.1963 mit einem Omnibus einen gewaltsamen Grenzdurchbruch unternahm. Die Eltern vermuten, dass [pseudonymisiert: E.] den Wagen gefahren hat, bzw. neben dem Fahrer sass. Es war mir nicht möglcih, festzustellen, woher die Informationen der Eltern stammen, da sie immer bei der Erklärung blieben, "das wird so erzählt".
Von mir wurden keinerlei Auskünfte über die Straftat gegeben. Ich habe auch nicht bestätigt, dass [pseudonymisiert: E.] an dem betreffenden Grenzdurchbruch beteiligt war.
Den Eltern wurde gleichzeitig mitgeteilt, dass diese Auskünfte als Benachrichtigung gelten und Schreib- sowie Sprecherlaubnis zur Zeit nicht erteilt werden können.
[abgehakt] 2) MfS zur Kts.
I.A.
[Unterschrift]
(Jähnke)
Staatsanwalt
[handschriftliche Ergänzung: zu 2) Original an Eb abgesandt]
[Stempel: 4. Juni 1963]
[pseudonymisiert: Ehrhardt] Eltern: [anonymisiert] [pseudonymisiert: Ehrhardt], Mühlenbeck/oranienbg.
[handschriftliche Ergänzung: erl. in Sprechstd. am 04.06.1963 [anonymisiert]]
Linie IX (Untersuchungsorgan)
Die HA IX war die für strafrechtliche Ermittlungen zuständige Diensteinheit (Strafverfolgung). Sie hatte wie die nachgeordneten Abteilung IX in den Bezirksverwaltung (BV) (Linie IX) die Befugnisse eines Untersuchungsorgans, d. h. einer kriminalpolizeilichen Ermittlungsbehörde. Ursprünglich vor allem für die sog. Staatsverbrechen zuständig, befasste sie sich in der Honecker-Ära überwiegend mit Straftaten gegen die staatliche Ordnung, vor allem mit Fällen "ungesetzlichen Grenzübertritts" und Delikten, die mit Ausreisebegehren zu tun hatten. Nach StPO der DDR standen auch die Ermittlungsverfahren der Linie IX unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft, in der Praxis arbeitete das MfS hier jedoch weitgehend eigenständig.
Die HA IX und die Abt. IX der BV waren berechtigt, Ermittlungsverfahren einzuleiten sowie Festnahmen, Vernehmungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen und andere strafprozessuale Handlungen vorzunehmen sowie verpflichtet, diese Verfahren nach einer bestimmten Frist - meist durch die Übergabe an die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung - zum Abschluss zu bringen (Untersuchungsvorgang). Daneben führte sie Vorermittlungen zur Feststellung von Ursachen und Verantwortlichen bei Großhavarien (industriellen Störfällen), Flugblättern widerständigen Inhalts, öffentlichen Protesten u. ä. (Vorkommnisuntersuchung, Sachverhaltsprüfung).
Die HA IX gehörte zeit ihres Bestehens zum Anleitungsbereich Mielkes, in den ersten Jahren in seiner Funktion als Staatssekretär und 1. stellv. Minister, ab 1957 als Minister. Ihre Leiter waren Alfred Karl Scholz (1950-1956), Kurt Richter (1956-1964), Walter Heinitz (1964-1973) und Rolf Fister (1973-1989).
1953 bestand die HA IX aus drei Abteilungen, die für Spionagefälle, Fälle politischer "Untergrundtätigkeit" und die Anleitung der Abt. IX der BV zuständig waren. Durch Ausgliederungen entstanden weitere Abteilungen, so u. a. für Wirtschaftsdelikte, Militärstraftaten, Delikte von MfS-Angehörigen und Fluchtfälle. Ende 1988 bestand die HA IX aus zehn Untersuchungsabteilungen sowie der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) und der AGL (Arbeitsgruppe des Ministers (AGM)) mit insgesamt 489 Mitarbeitern. Auf der Linie IX arbeiteten 1 225 hauptamtliche Mitarbeiter.
Die Linie IX wirkte eng mit den Abteilung XIV (Haft) und der Linie VIII (Hauptabteilung VIII (Beobachtung, Ermittlung)), die für die Durchführung der Festnahmen zuständig waren, zusammen. Bei der juristischen Beurteilung von Operativen Vorgängen (OV) wurde die HA IX von den geheimdienstlich arbeitenden Diensteinheiten häufig einbezogen.
Der Begriff Untersuchungsorgan (russ.: sledstwennyj organ) ist sowjetischen Ursprungs und verdrängte in der DDR in den frühen 50er Jahren allmählich den traditionellen deutschen Begriff Ermittlungsbehörde. Untersuchungsorgane hatten laut Strafprozessordnung (StPO) der DDR die Befugnisse polizeilicher Ermittlungsbehörden und unterstanden bei der Bearbeitung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens de jure der Aufsicht des Staatsanwaltes (§§ 95-98 StPO/1952, §§ 87-89 StPO/1968).
Während anfangs das MfS insgesamt als Untersuchungsorgan galt, wurden später zumeist nur noch jene Bereiche, die strafrechtliche Ermittlungsverfahren durchführten, also die HA IX in der Berliner MfS-Zentrale und die fachlich nachgeordneten Abt. IX der BV, als Untersuchungsorgan bezeichnet. Neben den Untersuchungsorganen des MfS gab es in der DDR die Untersuchungsorgane des MdI (Kriminalpolizei) und der Zollverwaltung bzw. ihres Vorläufers Amt für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs (Zollfahndungsdienst). Bis 1953 übten auch die Kommissionen für staatliche Kontrolle in Wirtschaftsstrafverfahren die Funktionen von Untersuchungsorganen aus.
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").
Handschriftlicher Bericht eines Passkontrolleurs über einen Fluchtversuch mit einem BVG-Bus Dokument, 1 Seite
Bericht der Arbeitsgruppe Passkontrolle und Fahndung über eine gescheiterte Busflucht am Grenzübergang Invalidenstraße Dokument, 2 Seiten
Fotos von West-Berliner Augenzeugen bei einem gescheiterten Fluchtversuch am Grenzübergang Invalidenstraße 4 Fotografien
Fotodokumentation einer gescheiterten Flucht mit einem BVG-Bus 11 Fotografien