Signatur: BStU, MfS, AS, Nr. 754/70, Bl. 55
Gerald Thiem drang in die Ost-Berliner Grenzanlagen ein und wurde von Grenzsoldaten erschossen. Die Generalstaatsanwaltschaft der DDR und die Linie IX des MfS beschlossen gemeinsam die "Leichensache als unbekannt" abzuschließen.
Gerald Thiem, ein Polier aus dem West-Berliner Bezirk Neukölln, drang nach einem Feierabendumtrunk in die Ost-Berliner Grenzanlagen ein. Warum er dies tat, ist ungeklärt. Die Grenzsoldaten gaben insgesamt 177 Schuss auf ihn ab. Die Schützen erhielten am nächsten Tag das "Leistungsabzeichen der Grenztruppen" oder "Sachwertprämien".
Das MfS sorgte dafür, dass der gewaltsame Tod des West-Berliners Gerald Thiem nicht publik wurde. Die Bemühungen des SED-Staates um internationale Anerkennung sollten nicht gefährdet werden.
Im Westen galt Thiem als verschollen und wurde 1981 amtlich für tot erklärt. Seine Töchter erfuhren erst 1994 die Wahrheit über seinen Tod, seine Frau war inzwischen verstorben.
Am späten Abend des 7. August 1970 lief der West-Berliner Gerald Thiem in einem unübersichtlichen Grenzbereich durch die Sperren der Grenzanlagen im Umbau. Als ihn ein Grenzposten daraufhin festnehmen wollte, lief Thiem weiter und geriet in das Blickfeld anderer Grenzsoldaten. Sie eröffneten sofort das Feuer. Gerald Thiem brach im Kugelhagel zusammen und starb.
Das MfS beobachtete zunächst die Berichterstattung der westlichen Presse. Die Zeitungen in West-Berlin berichteten, dass Gerald Thiem als vermisst gilt und gesucht wird. Die nächtlichen Schüsse, die auch im Westteil der Stadt zu hören waren, wurden mit seiner Person aber nicht in Verbindung gebracht. Das MfS sah daher eine gute Chance, den Tod von Thiem zu verschweigen.
Die Generalstaatsanwaltschaft der DDR und die Linie IX des MfS waren die beiden wichtigsten Organe, die politische Strafermittlungen durchführten. Sie vereinbarten, die "Leichensache als unbekannt" abzuschließen, und verwischten alle Spuren.
Helmut Möbus, "Offizier für Sonderaufgaben" bei der Abteilung IX in der Berliner Bezirksverwaltung des MfS, war 1970 der Hauptsachbearbeiter des Todesfalls Thiem. In seine Zuständigkeit fielen "Leichensachen" in der Bezirksverwaltung Berlin. Dabei handelte es sich um ein Synonym für die Mauertoten.
Berlin, den 10. August 1970
Am heutigen Tage fand beim stellv. Generalstaatsanwalt der DDR Gen. Borchert in Anwesenheit des Gen. Oberst Heinitz, Gen. Oberstleutnant Niebling, Gen. Hauptmann Reißmann und Gen. Oberleutnant Möbus eine Aussprache über die Leichensache Thieme statt. Hierbei wurde nach Prüfung aller Umstände festgelegt, daß diese Leichensache als unbekannt behandelt und abgeschlossen wird. Es wurde angewiesen, daß alle Maßnahmen zur Geheimhaltung getroffen werden.
Nur Original gefertigt
[Unterschrift: unleserlich]
Oberleutnant
Linie IX (Untersuchungsorgan)
Die HA IX war die für strafrechtliche Ermittlungen zuständige Diensteinheit (Strafverfolgung). Sie hatte wie die nachgeordneten Abteilung IX in den Bezirksverwaltung (BV) (Linie IX) die Befugnisse eines Untersuchungsorgans, d. h. einer kriminalpolizeilichen Ermittlungsbehörde. Ursprünglich vor allem für die sog. Staatsverbrechen zuständig, befasste sie sich in der Honecker-Ära überwiegend mit Straftaten gegen die staatliche Ordnung, vor allem mit Fällen "ungesetzlichen Grenzübertritts" und Delikten, die mit Ausreisebegehren zu tun hatten. Nach StPO der DDR standen auch die Ermittlungsverfahren der Linie IX unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft, in der Praxis arbeitete das MfS hier jedoch weitgehend eigenständig.
Die HA IX und die Abt. IX der BV waren berechtigt, Ermittlungsverfahren einzuleiten sowie Festnahmen, Vernehmungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen und andere strafprozessuale Handlungen vorzunehmen sowie verpflichtet, diese Verfahren nach einer bestimmten Frist - meist durch die Übergabe an die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung - zum Abschluss zu bringen (Untersuchungsvorgang). Daneben führte sie Vorermittlungen zur Feststellung von Ursachen und Verantwortlichen bei Großhavarien (industriellen Störfällen), Flugblättern widerständigen Inhalts, öffentlichen Protesten u. ä. (Vorkommnisuntersuchung, Sachverhaltsprüfung).
Die HA IX gehörte zeit ihres Bestehens zum Anleitungsbereich Mielkes, in den ersten Jahren in seiner Funktion als Staatssekretär und 1. stellv. Minister, ab 1957 als Minister. Ihre Leiter waren Alfred Karl Scholz (1950-1956), Kurt Richter (1956-1964), Walter Heinitz (1964-1973) und Rolf Fister (1973-1989).
1953 bestand die HA IX aus drei Abteilungen, die für Spionagefälle, Fälle politischer "Untergrundtätigkeit" und die Anleitung der Abt. IX der BV zuständig waren. Durch Ausgliederungen entstanden weitere Abteilungen, so u. a. für Wirtschaftsdelikte, Militärstraftaten, Delikte von MfS-Angehörigen und Fluchtfälle. Ende 1988 bestand die HA IX aus zehn Untersuchungsabteilungen sowie der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) und der AGL (Arbeitsgruppe des Ministers (AGM)) mit insgesamt 489 Mitarbeitern. Auf der Linie IX arbeiteten 1 225 hauptamtliche Mitarbeiter.
Die Linie IX wirkte eng mit den Abteilung XIV (Haft) und der Linie VIII (Hauptabteilung VIII (Beobachtung, Ermittlung)), die für die Durchführung der Festnahmen zuständig waren, zusammen. Bei der juristischen Beurteilung von Operativen Vorgängen (OV) wurde die HA IX von den geheimdienstlich arbeitenden Diensteinheiten häufig einbezogen.
Die Allgemeine Sachablage (AS) ist Bestand 2 der Abteilung XII. Der Bestand enthält v. a. sachbezogene Unterlagen. Größte Registraturbildner waren die HA I, die HA IX und das BdL. Des Weiteren liegen hier auch Vorgangshefte und Objektvorgänge sowie Akten der MfS-Vorgänger. Inhalte sind u. a. Ermittlungen zu Havarien und Unfällen, Untersuchungen von Widerstand und Flucht, Berichterstattung an die SED, Eingabenbearbeitung, Kontakte mit Ostblock-Diensten und Sicherung von Großveranstaltungen. Der Bestand ist zugänglich über ein BStU-Findbuch und die F 16. Der Umfang beträgt 490 lfm.
Im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform der DDR vom Sommer 1952 wurden die fünf Länderverwaltungen für Staatssicherheit (LVfS) in 14 Bezirksverwaltungen umgebildet. Daneben bestanden die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin und die Objektverwaltung "W" (Wismut) mit den Befugnissen einer BV. Letztere wurde 1982 als zusätzlicher Stellvertreterbereich "W" in die Struktur der BV Karl-Marx-Stadt eingegliedert.
Der Apparat der Zentrale des MfS Berlin und der der BV waren analog strukturiert und nach dem Linienprinzip organisiert. So waren die Hauptabteilung II in der Zentrale bzw. die Abteilungen II der BV für die Schwerpunkte der Spionageabwehr zuständig usw. Auf der Linie der Hauptverwaltung A waren die Abteilung XV der BV aktiv. Einige Zuständigkeiten behielt sich die Zentrale vor: so die Militärabwehr (Hauptabteilung I) und die internationalen Verbindungen (Abteilung X) oder die Arbeit des Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten in Westberlin (Abteilung XVII). Für einige Aufgabenstellungen wurde die Bildung bezirklicher Struktureinheiten für unnötig erachtet. So gab es in den 60er und 70er Jahren für die Abteilung XXI und das Büro der Leitung II Referenten für Koordinierung (RfK) bzw. Offiziere BdL II. Für spezifische Aufgaben gab es territorial bedingte Diensteinheiten bei einigen BV, z. B. in Leipzig ein selbständiges Referat (sR) Messe, in Rostock die Abt. Hafen.
An der Spitze der BV standen der Leiter (Chef) und zwei Stellv. Operativ. Der Stellv. für Aufklärung fungierte zugleich als Leiter der Abt. XV. Die Schaffung des Stellvertreterbereichs Operative Technik im MfS Berlin im Jahre 1986 führte in den BV zur Bildung von Stellv. für Operative Technik/Sicherstellung.
In der Regel höherrangiger Offizier, der dem Leiter einer Diensteinheit direkt zugeordnet war. Eine verbindliche Definition seiner Funktion gibt es nicht, denn die Bezeichnung konnte höchst Verschiedenes bedeuten: sowohl die Übertragung besonders brisanter Aufgaben wie Häftlingsfreikauf und Devisenbeschaffung als auch eine Pro-forma-Position, um einem verdienten, aber nicht mehr voll leistungsfähigen Offizier die letzten Berufsjahre zu erleichtern.
Luftbild der Grenzanlagen entlang des Britzer Verbindungskanals zwischen Neukölln und Treptow 1 Fotografie
Luftbildaufnahme der Berliner Mauer an der Grenze zur Gropiusstadt in Berlin-Neukölln 1 Fotografie
Luftbild der Grenze am Britzer Verbindungskanal in Berlin-Neukölln 1 Fotografie
Information der BV Berlin zum Neonazi-Überfall auf ein Punkkonzert in der Zionskirche Dokument, 5 Seiten