Signatur: BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 8399, Bl. 1-4
Bei der "Kampfdemonstration" am 17. Januar 1988 anlässlich des 69. Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wollten auch Ausreisewillige und Bürgerrechtler teilnehmen, um ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Die Stasi versuchte dies zu verhindern.
Am 17. Januar 1988 fand anlässlich des 69. Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die alljährliche "Kampfdemonstration" in Ost-Berlin statt. An der Veranstaltung, an der traditionell die Partei- und Staatsführung teilnahm, beteiligten sich nach Angaben des Neuen Deutschland "über 200.000" Menschen.
Teilzunehmen beabsichtigten auch über hundert Angehörige unabhängiger Menschenrechtsgruppen und Ausreisewillige. Ihre Transparente waren mit Luxemburg-Zitaten beschriftet wie "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden" und "Wer sich nicht bewegt, spürt die Fesseln nicht". Bürgerrechtler forderten politischen Wandel in der DDR, Ausreisewillige, die ihren bislang erfolglosen Ausreiseantrag durchsetzen wollten, demonstrierten für das Recht auf Freizügigkeit.
Da die Gegendemonstranten bereits im Vorfeld die Öffentlichkeit suchten, war das Vorhaben den Sicherheitsorganen frühzeitig bekannt. Mit Drohungen, Versprechungen und Ausweisungen ergriffen sie Maßnahmen zur Absicherung der Kampfdemonstration bzw. zur Verhinderung "feindlicher" Handlungen.
In einem Schreiben an die Leiter der Diensteinheiten zu den Aktivitäten der AG Staatsbürgerschaftsrecht forderte Mielke-Stellvertreter Rudi Mittig den verstärkten Einsatz aller verfügbaren Kräfte. So wollte er verhindern dass die Gruppe weitere Aktivitäten unternahm, insbesondere im Hinblick auf den 17. Januar.
Ministerium für Staatssicherheit
Stellvertreter des Ministers
Berlin, 13. Januar
Diensteinheiten
Leiter
Vertrauliche Verschlußsache
VVS-o008
MfS-Nr. 3/88
78. Ausf. Bl. 1 bis 2
In jüngster Zeit verstärken aus der politischen Untergrundtätigkeit bekannte feindliche Kräfte in der DDR sichtbar ihre
Anstrengungen, um weitere feindlich-negative Personenkreise, insbesondere Übersiedlungsersuchende, zu formieren und zu antisozialistischen Handlungen zu aktivieren. Durch offen provokatorische Aktivitäten sollen verstärkter Druck auf Partei- und Staatsorgane ausgeübt und die staatlichen Organe der DDR zu Reaktionen und Entscheidungen veranlaßt werden, die im Zusammenwirken mit gegnerischen Kräften in der BRD und in Westberlin zur internationalen Diskreditierung der DDR genutzt werden sollen.
Am 10. Dezember 1987 wurde in der Hauptstadt der DDR, Berlin, unter Mißbrauch Räumlichkeiten der evangelischen Kirche
durch feindlich-negative Kräfte eine sogenannte Arbeitsgruppe "Staatsbürgerschaftsrecht der DDR" gegründet, die in einer von 45 Personen - überwiegend Übersiedlungsersuchenden - unterzeichneten und an führende Persönlichkeiten der DDR übersandten "Erklärung" solche Forderungen stellt, wie
Die Kirchen gerieten nicht selten unter Verdacht, gegen die politischen Verhältnisse in der DDR zu opponieren. Das lag an ihrer weitgehenden Eigenständigkeit, an der christlichen Botschaft, die von den kommunistischen Ideologen als konkurrierendes Sinn- und Erklärungsangebot abgelehnt wurde, sowie an ihrem Beharren auf Mitsprache und Gestaltungsanspruch in gesellschaftlichen Fragen. Im Auftrag der SED wurde daher das MfS tätig, um die von den Kirchen ausgehenden vermeintlichen und tatsächlichen Gefahren für das politisch-ideologische System der DDR abzuwehren.
Die SED-Kirchenpolitik war in den vier Jahrzehnten der DDR Wandlungen unterworfen. In den 50er Jahren führte die SED mehrfach einen offenen Kirchenkampf. Dieser richtete sich u. a. gegen die kirchliche Jugend- und Studentenarbeit, v. a. bei der Einführung der Jugendweihe, sowie gegen karitative Einrichtungen wie die Bahnhofsmissionen. Mehrere Religionsgemeinschaften wurden verboten und deren Anhänger verfolgt.
Die SED war zudem bestrebt, die Verlesung von solchen Hirtenbriefen und Kanzelabkündigungen zu unterbinden, in denen sozialethische, gesellschaftskritische oder politische Fragen aufgegriffen wurden. Von der Polizei und dem MfS wurden kirchliche Einrichtungen durchsucht und Literatur beschlagnahmt. Neben kirchlichen Mitarbeitern wurden unter Mitwirkung des MfS auch Pfarrer – zwischen 1950 und 1960 mindestens 140 – inhaftiert.
Ab den 60er Jahren beschränkte sich die SED zunehmend darauf, durch eine rigorose Auslegung der Veranstaltungsordnung unerwünschte kirchliche Aktivitäten zu behindern. Das offizielle Eindringen in kirchliche Räume wie im November 1987, als es nachts in der Zionsgemeinde in Ostberlin zu Durchsuchungen und Festnahmen kam, war in den 70er und 80er Jahren eher untypisch, weil dies die Staat-Kirche-Beziehungen erheblich belastete. Vor allem seit 1978 bemühte sich die SED, ein Stillhalteabkommen zwischen Kirchenleitungen und Staat zu respektieren.
Das MfS versuchte aber stets, indirekt Einfluss auf kirchliche Entscheidungen zu nehmen. Dies und die verdeckte Informationsbeschaffung zählten zu den Hauptbetätigungsfeldern des MfS im Rahmen der von der SED konzipierten Kirchenpolitik. Die Informationsbeschaffung erfolgte mittels Observation, IM-Einsatz und auf dem Weg der sog. Gesprächsabschöpfung. Dabei gelang es in Einzelfällen auch, Christen in kirchlichen Leitungspositionen als IM zu gewinnen.
So arbeitete der thüringische Kirchenjurist und Oberkirchenrat Gerhard Lotz seit 1955 mit dem MfS als IM "Karl" zusammen. Durch die Positionierung eines Offiziers im besonderen Einsatz im Konsistorium in Magdeburg, Detlev Hammer, der ab 1974 juristischer, dann Oberkonsistorialrat war, vermochte es das MfS, einen hauptamtlichen Mitarbeiter innerhalb der Leitungsstruktur der provinzsächsischen Kirche zu platzieren. Außerdem hatte das MfS gegenüber den Kirchen dann tätig zu werden, wenn Verdachtsmomente dafür vorlagen, dass die Kirchen über den ihnen von der SED zugewiesenen religiös-kultischen Bereich hinaus tätig wurden.
Dementsprechend observierte das MfS Kirchengemeinden und Pfarrer, die – wie es beim MfS hieß – im Rahmen der "Partnerschaftsarbeit" Besuchskontakt zu Kirchengemeinden in der Bundesrepublik unterhielten. Das MfS legte hierzu OV an und ermittelte gegen die Organisatoren der Zusammenkünfte.
Als Ziele der MfS-Aufklärung galten ebenso kirchliche Synoden und Basistreffen, auf denen grundsätzlich die potenzielle Gefahr bestand, dass Kritik an den Verhältnissen in der DDR geübt werden würde. In das Blickfeld des MfS rückten die evangelischen Kirchen insbesondere ab Mitte der 70er Jahre: Zunächst rief die auch unter nichtkirchlichen Jugendlichen an Attraktivität gewinnende kirchliche Jugendarbeit, dann die Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsarbeit unter dem Dach der Kirche den Argwohn des MfS hervor.
Insgesamt war das MfS nur eine von mehreren Institutionen des SED-Staates, die im Rahmen der SED-Kirchenpolitik tätig wurden. Im Zusammenspiel mit ihnen versuchte das MfS, die Kirchen zu kontrollieren und zu disziplinieren.
In Auswertung der kirchenpolitischen Kampagnen der 50er Jahre und bestärkt durch konzeptionelle Arbeiten, drängte die SED-Führung ab Anfang der 80er Jahre zunehmend auf ein koordiniertes Vorgehen. Die vom MdI und den Abteilungen für Inneres erstellten Rapportmeldungen, Berichte und Personeneinschätzungen zu Gottesdiensten und kirchlichen Mitarbeitern wurden vereinbarungsgemäß dem MfS zur Verfügung gestellt und bildeten häufig den Grundstock jener Berichte und Personencharakteristiken, die sich in den Beständen des MfS wiederfinden.
Bereits vor Gründung des MfS hatte bei der Deutschen Verwaltung des Innern in der Abteilung K 5 das Referat C 3 existiert. Als Aufgabenbeschreibung wurde die "Aufklärung und Bekämpfung der kirchlichen Feindtätigkeit" genannt. Ab 1950 bestand im MfS zunächst die Abteilung V, die sich ab 1953 Hauptabteilung V nannte und 1964 im Zuge einer Umstrukturierung zur Hauptabteilung XX wurde.
Innerhalb dieser Organisationsstruktur zeichnete die Abt. 4 für die "Bearbeitung" der Kirchen verantwortlich. 1988 gliedert sich diese in sechs Fachreferate, wobei je eins für die evangelischen Kirchen, die katholische Kirche sowie die Religionsgemeinschaften und Sekten zuständig war. Ein Referat widmete sich Operativen Vorgängen. Als Schwerpunkt der Arbeit wurde die "Bekämpfung der politischen Untergrundtätigkeit" benannt. Zwei weitere Referate nahmen koordinierende Funktionen wahr.
Neben der Hauptabteilung XX/4 stützte sich das MfS bei der Bekämpfung und Infiltration der Kirchen auf die Zuarbeit verschiedener Hauptabteilungen und Abteilungen - so u. a. auf die Dienste der HV A bei der "Aufklärung" von westlichen Partnergemeinden und Pfarrern, die die kirchliche Friedensarbeit in den ostdeutschen Gemeinden unterstützten. Im Fall der Inhaftierung kirchlicher Mitarbeiter übernahm die Hauptabteilung IX als Untersuchungsorgan den Vorgang.
Hinzu kamen andere institutionalisierte Formen der "Bearbeitung". Als politisch-ideologische fungierte ab 1958 das Referat Familienforschung, das Verwicklungen missliebiger Kirchenvertreter in das NS-Regime aufdecken oder konstruieren sollte, um die so Diffamierten unter Druck setzen zu können. Angesiedelt war es beim Deutschen Zentralarchiv in Potsdam. Es verwaltete verschiedene aus NS-Beständen stammende Unterlagen und wertete sie aus. Dabei handelte es sich um eine verdeckt arbeitende Einrichtung des MfS.
Um den steigenden Informationsbedarf – unter Berücksichtigung der Spezifik kirchlicher und religiöser Angelegenheiten – zu decken und um Sonderaufträge u. a. auch im Ausland ausführen zu können, etablierte das MfS 1960 die sog. Auswertungsgruppe, die dem Referat V zugeordnet wurde. In einem konspirativen Objekt in Berlin-Pankow ("Institut Wandlitz") arbeiteten hauptamtliche IM und mehrere OibE zusammen.
Seine "Absicherung" fand das Vorgehen des MfS gegenüber den Kirchen durch ein umfangreiches Netz von OibE und IM, die das MfS im Staatssekretariat für Kirchenfragen und in den Kirchenabteilungen der DDR-Bezirke unterhielt. 1989 gab es im Staatssekretariat drei OibE; zudem berichtete der persönliche Referent und Büroleiter der Staatssekretäre Hans Seigewasser und Klaus Gysi, Horst Dohle, ab 1975 als IM "Horst" dem MfS. Insgesamt aber gelang es dem MfS nicht, die Kirchen umfassend zu unterwandern.
1956 entstanden durch Umbenennung der Abteilung Allgemeines. Aufgaben des Büros der Leitung waren unter anderem
Die MfS-Kategorie der politischen Untergrundtätigkeit (PUT) diente der Beschreibung konkreter oppositioneller oder widerständiger Handlungen, die sich in organisatorischen Strukturen vollzogen oder deren Herausbildung beabsichtigten. Er ist damit abgegrenzt vom Begriff der politisch-ideologischen Diversion, der Aktivitäten und Äußerungen bezeichnete, die die offizielle SED-Ideologie in Frage stellten,
Die Kategorie der PUT diente dem MfS u. a. zur Einstufung aktiver politischer Gegner und sollte den Grad ihrer "Gefährlichkeit" verdeutlichen. Im Begriff klingt außerdem der Vorwurf mit, dass diese vom Westen "inspiriert" oder sogar gesteuert würden. Die Kategorie fand Verwendung in der vom MfS praktizierten Kerblochkartei-Erfassung oder bei der Personenbeschreibung in Operativen Personenkontrollen und Operativen Vorgängen. Zugleich erstellte das MfS auf der Grundlage der PUT-Kategorie Festnahmelisten, die im "Spannungsfall" umgesetzt werden sollten.
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Signatur: BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 8399, Bl. 1-4
Bei der "Kampfdemonstration" am 17. Januar 1988 anlässlich des 69. Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wollten auch Ausreisewillige und Bürgerrechtler teilnehmen, um ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Die Stasi versuchte dies zu verhindern.
Am 17. Januar 1988 fand anlässlich des 69. Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die alljährliche "Kampfdemonstration" in Ost-Berlin statt. An der Veranstaltung, an der traditionell die Partei- und Staatsführung teilnahm, beteiligten sich nach Angaben des Neuen Deutschland "über 200.000" Menschen.
Teilzunehmen beabsichtigten auch über hundert Angehörige unabhängiger Menschenrechtsgruppen und Ausreisewillige. Ihre Transparente waren mit Luxemburg-Zitaten beschriftet wie "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden" und "Wer sich nicht bewegt, spürt die Fesseln nicht". Bürgerrechtler forderten politischen Wandel in der DDR, Ausreisewillige, die ihren bislang erfolglosen Ausreiseantrag durchsetzen wollten, demonstrierten für das Recht auf Freizügigkeit.
Da die Gegendemonstranten bereits im Vorfeld die Öffentlichkeit suchten, war das Vorhaben den Sicherheitsorganen frühzeitig bekannt. Mit Drohungen, Versprechungen und Ausweisungen ergriffen sie Maßnahmen zur Absicherung der Kampfdemonstration bzw. zur Verhinderung "feindlicher" Handlungen.
In einem Schreiben an die Leiter der Diensteinheiten zu den Aktivitäten der AG Staatsbürgerschaftsrecht forderte Mielke-Stellvertreter Rudi Mittig den verstärkten Einsatz aller verfügbaren Kräfte. So wollte er verhindern dass die Gruppe weitere Aktivitäten unternahm, insbesondere im Hinblick auf den 17. Januar.
Weiterhin trat die Gruppierung bereits mit provokatorischen Briefen an staatliche Organe und Leiter von Institutionen sowie mit Unterschriftslisten in Erscheinung.
Bisher sind über 100 Mitglieder der Gruppierung identifiziert, wozu auch Personen aus den Bezirken der DDR gehören. Es handelt sich in der überwiegenden Mehrzahl um Übersiedlungsersuchende.
Nach internen Erkenntnissen beabsichtigen die Organisatoren der Gruppierung, die am 17. Januar 1988 in Berlin stattfindende Kampfdemonstration anläßlich des Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg für ihre feindlichen Zielstellungen zu mißbrauchen.
So wurden die über 150 Teilnehmer einer Zusammenkunft am 09.01.88 in der sogenannten Umweltbibliothek aufgefordert, sich als Gruppe oder in anderer Form an der Kampfdemonstration zu beteiligen und selbstgefertigte Transparente mit im negativen Sinne auslegbaren Aussprüchen von Rosa Luxemburg sowie Sichtelemente mit Hinweisen auf die Übersiedlungsproblematik mitzuführen.
Desweiteren ist geplant, bei staatlichen Organen in der Hauptstadt sowie in Bezirks- und Kreisstädten in provokatorischer Absicht durch gruppenweises Auftreten "Rechte der Staatsbürger zu erfragen" sowie bei der Staatsanwaltschaft eine Antwort auf die in der "Erklärung" gestellten Forderungen einzuklagen.
Geplant ist neben weiteren Aktivitäten die Bildung analoger Gruppen in den Bezirken der DDR.
1956 entstanden durch Umbenennung der Abteilung Allgemeines. Aufgaben des Büros der Leitung waren unter anderem
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"Maßnahmeplan" zur Zersetzung, Verunsicherung und Auflösung der AG Staatsbürgerschaftsrecht Dokument, 2 Seiten
Schreiben an alle Diensteinheiten zur Verhinderung einer Neuformierung der AG Staatsbürgerschaftsrecht Dokument, 2 Seiten
Information über den feindlichen Zusammenschluss Übersiedlungssuchender unter Nutzung der Möglichkeiten der Kirche Dokument, 2 Seiten
Schreiben an alle Diensteinheiten nach der Verhaftung von fünf Bürgerrechtlern Dokument, 3 Seiten