Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 11283, Bl. 200-204
Selbst in den Reihen der eigenen Parteigenossen wurden nach Abschluss der KSZE-Konferenz Forderungen nach der Umsetzung der Beschlüsse der Schlussakte von Helsinki laut.
Im August 1975 unterzeichnete die DDR die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Auf dem Papier verpflichtete sie sich damit zur Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Land. Nach der Unterschrift unter das Vertragswerk beauftragte jedoch die SED ihre Geheimpolizei, unerwünschte Nebenwirkungen, wie das Beharren der Menschen auf Ausreise oder zunehmende Westkontakte, zu bekämpfen – den Bürgern der DDR also weiterhin ihre Menschenrechte vorzuenthalten.
Selbst aus den Reihen der SED-Mitglieder wurden nach dem Ende der KSZE-Konferenz Forderungen nach der Umsetzung der Beschlüsse der Schlussakte von Helsinki laut. Kritische Nachfragen und Bezugnahmen auf die Vereinbarungen der Schlussakte nahmen sogar unter den Parteigenossen zu. Als die erhofften Reformen ausblieben, kam es zu vermehrten Parteiaustritten, Unterschriftensammlungen und Ankündigungen von Demonstrationen. Wenn einzelne kritische Genossen die Partei nicht freiwillig verließen, wurden sie oftmals aus der Partei ausgeschlossen. Das MfS beobachtete und dokumentierte diese Tendenzen.
Neben den vielfältigsten positiven Reaktionen im Zusammenhang mit der Vorbereitung und dem Ergebnis der Konferenz von Helsinki machen Informationen, Anfragen, Eingaben und Parteiverfahren jedoch darauf aufmerksam, dass auch eine Reihe Genossen illusionäre Auffassungen, Zweifel sowie nicht klassenmässige Forderungen und Verhaltensweisen zeigen bis zu feindlichen Positionen einzelner. Wenn es sich auch nur um einen relativ kleinen Teil von Genossen handelt, so treten solche Erscheinungen jedoch in diesem Jahr verstärkt auf.
[der folgende Absatz ist teilweise unterstrichen] Am häufigsten zeigt sich dabei, dass bei diesen Genossen die Fragen der Sicherheit weniger Beachtung finden, sondern die Ergebnisse vielmehr vom Standpunkt uneingeschränkter Reisemöglichkeiten und der Touristik in das kapitalistische Ausland, besonders die BRD, des Informationsaustausches und der Lösung rein persönlicher Probleme betrachtet werden. Dabei ist in den Meinungsäußerungen unverkennbar, dass die durch die westlichen Massenmedien angeheizten Erwartungen bei einigen Genossen nicht ohne Wirkung blieben.
Sichtbar wird das in solchen Positionen, dass zum Beispiel die Forderung nach mehr Grosszügigkeit bei Reiseanträgen mit Verbesserung der "innerdeutschen Beziehungen" und mit mehr "menschlichen Kontakten" begründet wird, bzw. als eine Frage der "persönlichen Freiheit", des 'Vertrauens" zu den Genossen und ihrem gewachsenen Bewusstsein hingestellt wird.
Bei Auseinandersetzungen mit Genossen wegen prinzipienlosen Verhaltens bei Kontakten mit BRD-Bürgern wird von diesen Genossen häufig von der Politik der friedlichen Koexistenz im Zusammenhang mit Helsinki gesprochen und mehr Grosszügigkeit verlangt.
Zur Frage des Informationsaustausches ist die Forderung nach mehr westlichen Zeitschriften und Zeitungen zum Teil verbunden mit Äusserungen, dass sie erfahren wollen, was in der BRD wirklich los ist und die Zweifel am Wahrheitsgehalt unserer Informationen erkennen lassen.
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").
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Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 11283, Bl. 200-204
Selbst in den Reihen der eigenen Parteigenossen wurden nach Abschluss der KSZE-Konferenz Forderungen nach der Umsetzung der Beschlüsse der Schlussakte von Helsinki laut.
Im August 1975 unterzeichnete die DDR die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Auf dem Papier verpflichtete sie sich damit zur Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Land. Nach der Unterschrift unter das Vertragswerk beauftragte jedoch die SED ihre Geheimpolizei, unerwünschte Nebenwirkungen, wie das Beharren der Menschen auf Ausreise oder zunehmende Westkontakte, zu bekämpfen – den Bürgern der DDR also weiterhin ihre Menschenrechte vorzuenthalten.
Selbst aus den Reihen der SED-Mitglieder wurden nach dem Ende der KSZE-Konferenz Forderungen nach der Umsetzung der Beschlüsse der Schlussakte von Helsinki laut. Kritische Nachfragen und Bezugnahmen auf die Vereinbarungen der Schlussakte nahmen sogar unter den Parteigenossen zu. Als die erhofften Reformen ausblieben, kam es zu vermehrten Parteiaustritten, Unterschriftensammlungen und Ankündigungen von Demonstrationen. Wenn einzelne kritische Genossen die Partei nicht freiwillig verließen, wurden sie oftmals aus der Partei ausgeschlossen. Das MfS beobachtete und dokumentierte diese Tendenzen.
Verstärkt tritt wieder in Erscheinung, dass sich auch Genossen mit Eingaben und Beschwerden bei Einziehung von Erzeugnissen, die nicht zur Einfuhr zugelassen sind, an die Zollorgane wenden und sich dabei auf die Ergebnisse von Helsinki beziehen. Teilweise wird dabei das Ansinnen zum Ausdruck gebracht, dass die DDR im Ergebnis der Konferenz bestimmte Positionen ihrer Sicherheit überprüfen müsste. Einzelne Genossen, die in der BRD waren, führten illegal Hetz- und Schundmaterial ein mit der Begründung, es für die politische Arbeit
zu verwenden.
Es gibt auch einzelne Fälle, wo im Zusammenhang oder bezogen auf die Konferenz von Helsinki, direkt feindliche Positionen vertreten wurden. [im folgenden Absatz sind einige Passagen unterstrichen] So zum Beispiel, dass nach den Verträgen von Helsinki eine solche Handlung wie 1968 in der CSSR nicht mehr möglich wäre, und die "Russen nicht mehr in Prag einmarschieren könnten"; oder dass man in der DDR unter einem Zwang leben würde und gezwungen wäre, "das Deutschtum" preiszugeben, um ein "Superrusse" zu werden.
Vor allem bei Ablehnung von Reisen und Übersiedlungen ins kapitalistische Ausland, besonders in die BRD, treten auch einige Mitglieder der Partei, vor allem Angehörige der Intelligenz und Angestellte, provokatorisch [der folgende Satz ist unterstrichen] auf bzw. erklärten ihren Austritt aus der Partei, wenn ihren Forderungen nicht Rechnung getragen wird.
Sechszehn Mitglieder wurden deshalb in diesem Jahr aus der Partei ausgeschlossen. Dabei wurde von einigen der Partei und Regierung unterstellt, dass sie die Verträge, vor allem bezogen auf Familienzusammenführung, und die Erklärung der UNO über Menschenrechte nicht einhalter und selbst unmenschlich handeln würden. Es wurde von einzelnen gedroht, beim Internationalen Gerichtshof Klage zu erheben oder demonstrative Handlungen in der Öffentlichkeit zu organisieren, um verhaftet und "abgeschoben" zu werden.
[der folgende Satz ist angestrichen] Es kam vereinzelt zu Unterschriftssammlungen, woran auch Genossen beteiligt waren.
Bei den Austrittserklärungen sind in diesem Zusammenhang einzelne Äusserungen hervorzuheben, die dahin gehen, dass sie in der Partei unter Zwang stehen würden und keine "persönliche Freiheit" besitzen, und dass ihnen die BRD-Staatsbürgerschaft mehr wert sei, als die Parteimitgliedschaft.
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").
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